GRATWANDERUNG

Rüdiger Bachmann erzählt was er sich unter dem Bild der "Gratwanderung" vorstellt.

November 17, 2022 Rüdiger Bachmann Season 1 Episode 5
GRATWANDERUNG
Rüdiger Bachmann erzählt was er sich unter dem Bild der "Gratwanderung" vorstellt.
Show Notes Transcript

Die Gratwanderung
Live Aufzeichnung vom Schulveränderer Treffen im Sommer 2022 am Schloss Tempelhof.

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Rüdiger Bachmann – Gratwanderung

Ich komme immer wieder auf dieses Bild mit der Gratwanderung zurück, weil ich das Gefühl habe: es betrifft so viele Bereiche im Leben. Ich würde es jetzt mal anhand des Beispiels nehmen, wie wir mit Kindern umgehen.

Bei einer Gratwanderung – wenn man sich einfach ein Gebirgsgrat vorstellt – gibt es ja dieses Tal und dieses Tal, und dann gibt es irgendwie so ein Gotthardtunnel da unten durch, wo es ja einfach ist und wie auch immer vorgebahnt ist. Und dann gibt es ja auch eine Gratwanderung. Und für mich ist es ein tolles Bild, weil: Es ist frei, es ist offen, es gibt Überblick, und es lässt diese und diese Seite sein. Und es ist auch schön da im Tal. Aber je nach dem, wie schmal der Grat ist, braucht es auch (gewisse) bisschen Übung. Und ja, da habe ich eine Wertung drin: Es ist schöner da oben. Es ist übersichtlicher, und es führt von dem zu dem Gipfel auf einer direkten Linie.

Und wenn Ihr jetzt das Bild einfach bloß mal wirken lasst… es ist nur meines.

Mit der Pädagogik, habe ich das Gefühl, ist es im Moment gerade so, wie Rebeca Wild auch schon vor 30 Jahren geschrieben hat. Es gibt die beiden Extreme: Kinder alleine lassen und Kinder manipulieren. Früher war die Seite total weit verbreitet oder das Überwiegende: Kinder zu manipulieren, zu zwingen, zu schlagen, zu strafen usw. Kinder mit harter Gewalt zu etwas zu bringen. Im Laufe der Jahre ist es dann sanfter und subtiler geworden. (Manchmal habe ich das Gefühl, es ist besser, in einer Staatsschule zu sein, als in einer sich ständig anpassenden z.B. Montessori-Schule, weil wen die Fronten klar sind, können Kinder innen heil bleiben. Als wenn alles so lieb und nett ist, und eigentlich manipuliert ständig jemand an mir rum und ich kriege es nicht so wirklich mit. Und wenn dann etwas nicht stimmt, dann bleibt Kindern eigentlich nur eines übrig zu denken – das muss hier sein. Weil die Tanten sind so lieb und die Onkels auch, und das Material ist so schön, und es ist ja irgendwie alles freiwillig. Aber die Kinder haben das Ding noch nicht: wo freiwillig ist, wenn ich etwas tun muss, damit es meiner Mutter gut geht. Das können nur wir. Und so wird es immer subtiler, aber es gehört auf die Seite von Manipulation.

Aber ich glaub, inzwischen ist das Pendel umgeschlagen zwischen meiner Generation und mancher von Euch. Und wie so oft, geht es wahrscheinlich auch gar nicht anders, wie mit einer kräftigen Gegenbewegung, und die kriegt man in der Mitte so nicht zum Halten, wenn man kräftig aus dieser Gewaltsgeschichte raus will, dann schwappt es halt auf die andere Seite. Und ich glaub, es ist bisschen heikel darüber zu sprechen, in unseren Kreisen. Aber was Rebeca Wild meint mit alleine lassen, das ist einfach, wenn wir uns hintanstellen, eig. fast sowas das gleiche wie das Gegenteil. Das andere Tal: da haben die Kinder zu viele Rechte, zu viel Verantwortung, ein zu viel an Freiheit, was wieder zur Verantwortungsübernahme führt und zu dem, dass Kinder einen Teil von Dingen übernehmen müssen, die sie belasten. Und da liegt das Problem für mich. 

Aber es ist nur meines. Wir waren ja alle Kinder, und wenn wir alle zu früh irgendetwas gemacht haben, haben wir uns Last aufgeladen. Und ich würde einfach behaupten, viele der Schatten oder Muster, die wir haben, kommen aus dem: Zu früh Dinge tun zu müssen, in wirklich gutem Glauben, dass es jetzt doch Zeit ist, dass die Kinder ihre Rechte kriegen.

Von daher glaube ich, gibt’s im Moment so ein Mittelding, und das ist immer, was ich den faulen Kompromiss nenne: Also wenn Leute nicht so extrem oder so extrem sein sollen – das, was ich mit dem Gotthardtunnel oder Autobahn unten durch nenne – das ist für mich der Begriff vom faulen Kompromiss. Und das ist so etwas wie freie Schulen, die keine sind. Oder Freilerner aus Not, die ihre Kinder doch zu etwas zwingen. Oder Staatsschulen, die so tun, als ob sie zum Wohl des Kindes da sind. Oder Eltern, die ihre absoluten Nöte nicht erkennen wollen, und zum Schluss sich wundern, dass ihre Kinder außer Rand und Band sind. Irgendwie so alles das, was alle akzeptieren. Von irgendwas Feinem reden und zum Schluss haben wir die Quittung: leidende Kinder.

Und für mich an diesem Bild ist es erstrebenswert, diese Gratwanderung zu versuchen, egal von welcher Seite wir kommen. Einfach so über verschieden Serpentinen, irgendwie raus aus der Manipulation zu kommen. In der HerausBildung gibt’s immer so einen Schockmoment im zweiten Modul, weil wir aus der Gestalttherapie übernehmend, haben wir so ein großes Poster mit kränkenden Formen von Sprache und Kommunikation. Und das sind aus Gestalttherapie zusammenfügt so um die 70 Sätze, die wir immer sprechen. Und die Schlimmsten hoffentlich haben wir inzwischen hoffentlich im Griff, so etwas wie „Wie oft hab ich Dir das schon gesagt?!“. Aber es gibt so ganz normale Sätze, wenn man die sich anschaut, die letztlich manipulieren. Und das ist also aus der Gewalt- und Manipulationsecke so der Weg hoch Richtung Grat, zu gucken: wo manipuliere ich aus einer inneren Not, aus einer Ideologie, aus einer Idee, aus einem Konzept oder aus irgendwas heraus. Wo manipuliere ich? Und komme so immer näher da hin, es nicht zu tun.

Und aus der anderen Seite ist so die Geschichte, dass Kinder – aus meiner Überzeugung – als archaisch Überlebensstrategie, Führung übernehmen müssen, wo keine da ist. Also es funktioniert nicht, sich herauszunehmen und den Kindern Platz zu lassen. Weil wenn das Herausnehmen nicht in hoher Verantwortung ist, sondern es ist eine Verantwortungübergabe oder Führung loslassen, springen Kinder immer ein. Es geht nicht anders. Aus meiner Überzeugung, aus meiner 30-jährigen Erfahrung. Und auch aus meiner persönlichen Erfahrung. Ich war der Älteste und ich war zuständig für meine Geschwister. Und ich war auch noch 45 Jahre lang stolz darauf. Und habe schlimme Lebenserfahrungen machen müssen, und das hat jetzt eigentlich gedauert, bis mein Vater tot ist und meine Mutter dement ist, dass ich zulassen konnte zu denken: Ja, meine Eltern waren auf dieser Ebene disfunktional. Weil die Liebe zu den Eltern macht uns einfach blind. Jesper Juul nennt es eben die Kooperation. Alle Kinder kooperieren. Und wenn wir nicht aufpassen: da wo wir weggehen, kooperieren die Kinder. Da ist der Weg aus dem Tal ein hohes Maß an Achtsamkeit für unsere persönliche Entwicklung. Wo lassen wir los, weil wir nicht kraftvoll genug sind? Wo lassen wir zu viel passieren, obwohl es uns nicht gut tut. Da wo wir uns ganz hinten anstellen.

Und da, über die Erkenntnisse. Und im Idealfall, in meinem Bild, ist es dann, was ich Euch von der Schule erzählt habe, weil Schule ist immer einfacher als Eltern-sein, viel viel viel einfacher.

Wenn wir so den Grat uns vorstellen, meine Idee ist, dass da oben ein Maximum an persönlicher Freiheit mit einem Maximum an Verantwortung zusammentreffen. Wenn es ein Maximum an persönlicher Entwicklung gibt, mit einem Maximum an Platz, dass Kinder sich entwickeln können. Und das ist immer ein Sowohl-Als auch, aber nicht: Hier unten du irgendwie und die sollen sich entwickeln und ich mich auch, und dann geht halt der eine zum Therapeuten und der andere auch. Sondern wirklich auf einer hohen Ebene. Und für mich ist da oben, es ist halt mein Bild von Gratwanderung, da ist einfach Glück. Und der Unterschied ist, da unten kann man auf der Autobahn ganz schnell bis zum Lago Maggiore und man kriegt überhaupt nichts mit. Und wir sind dann auf dem Rückweg oben. Und für mich war das ganz klar auf dem Hinweg – Gott sei Dank hab ich's verschlafen –, weil auf dem Rückweg hab ich nur Glücksgefühle gehabt. Und das ist für mich so der Gradmesser. Hier und hier gibt es ganz viel Rechthaberei, und das macht nicht glücklich. Und hier ist es gefühlt quasi wie so ein Sumpf. Und wenn das Zusammenleben von Menschen – egal, ob es Partner sind oder soz. Erziehungspartner oder wie auch immer, also Menschen, die miteinander Wege gehen – wenn sich das nach Glück anfühlt, dann hab ich das Gefühl, dass wir auf einer Gratwanderung sind. Und dann geht’s halt mal eher da runter, mal eher da, jeder rutscht im Stress dahin, wo er das kennt. Keiner stürzt sich ins Gegenteil, da wo man es nicht kennt. Das heißt, im Stress gehen wir eher nochmals bekannte Wege. Und dann ist man halt wieder ein bisschen am Rummanipulieren oder dann ist man halt noch einmal wieder so ein bisschen im Kinder-allein-lassen, und man merkt dann wie sie wieder das Regiment in der Familie übernehmen. Macht ja nichts. Weil es nie darum geht, perfekt zu sein.

Und für mich gibt es dieses Bild an so vielen Punkten. Und dann gibt es dieses Bild, wo es andockt mit schwarz und weiß und bunt und kariert usw. Und ich glaub dass es ganz viele Elemente gibt in unserer Art miteinander umzugehen, die in dieses Bild gut reinpassen.